Rekrutierung bedeutet in Zukunft vor allem, die richtigen Talente für eine Stelle zu interessieren. Mit Jobanzeigen von der Stange und Floskeln zur Unternehmenskultur gelingt das nicht. Arbeitgeber müssen die Personalgewinnung radikal personalisieren und zugleich ein „Matching durch Kennenlernen“ ermöglichen.

Gastbeitrag von Joachim Diercks, Autor des bekannten Recrutainment-Blogs blog.recrutainment.de und Gründer und Geschäftsführer der CYQUEST GmbH und der Mi4 GmbH

Der Fachkräftemangel, der seit einem guten Jahrzehnt debattiert wird, hat sich längst zum allgemeinen Arbeitskräftemangel ausgewachsen. Profis für Pflege, Betreuung, Handel oder Logistik sind so rar wie ehemals nur IT-Kräfte. Dadurch verschiebt sich die Macht immer weiter in Richtung der Bewerbenden. Und das bedeutet, Recruiting muss zunehmend im Sinne der Personalgewinnung gedacht werden. Gero Hesse hat diese Entwicklung als neues Recruiting-Paradigma bezeichnet: Nicht mehr das Unternehmen, seine Arbeitgebermarke und sein Personalbedarf sind der Ausgangspunkt der Überlegungen, sondern der Jobinteressent und seine Frage „Was will ich tun?“.

Die Personalauswahl wird oft auf die Auswahlinstrumente verengt: welche Bewerbungskanäle angeboten werden, welche Tests zum Einsatz kommen, wie Interviews ablaufen. Dabei hat zu diesem Zeitpunkt schon eine maßgebliche Selektion stattgefunden, nämlich die Entscheidung des Kandidaten, sich überhaupt zu bewerben. Ob erfolgreich rekrutiert wird, hängt ganz deutlich davon ab, wie gut die Selbstselektion der Kandidaten gelingt. Dafür braucht es vor allem ein durchdachtes Employer Branding. Denn eine Arbeitgebermarke erleichtert es den Interessenten zu erkennen, wofür das jeweilige Unternehmen eigentlich steht und ob sie dort arbeiten möchten. Genau an dieser Hilfe zur Selbstauswahl mangelt es jedoch noch vielerorts.

Personalisierung – von der Stellenanzeige bis zum Arbeitsmodell

Personalisierung statt „One size fits all“ – so lautet die Erfolgsstrategie des frühen 21. Jahrhunderts. Facebook spielt seinen Mitgliedern angepasste Inhalte nach einem ausgeklügelten Algorithmus aus. Google zeigt bei ein und derselben Suchanfrage mitunter völlig unterschiedliche Ergebnisse an, je nachdem, wo sich der User befindet und welches Zugangsgerät er benutzt. Auch die Personalgewinnung braucht über kurz oder lang erheblich mehr Personalisierung. Die Stellenanzeige von morgen zum Beispiel wird sich in Gestaltung, Tonalität und Inhalt von Betrachter zu Betrachter unterscheiden – schon heute gibt es Algorithmen, die einen Text eher „männlich“ oder „weiblich“ klingen lassen können. Nicht mehr der Absender definiert, was in der Stellenanzeige steht, sondern die Merkmale des Empfängers. Das Gleiche gilt für die gesamte Arbeitgeberkommunikation.

Warum muss eine Karrierewebsite immer noch für jeden Besucher gleich aussehen – mit identischen Inhalten und gleicher Tonalität? Im Zuge von immer stärkerer Individualisierung wird sich die Personalgewinnung außerdem von den klassischen Zielgruppen („Hochschulabsolventen mit Abschluss BWL“) verabschieden und häufiger mit Zielpersonen arbeiten („Jana, 24 Jahre aus Schmalkalden, technisch interessiert“).

Heute findet Rekrutierung oft noch zeitpunkt- oder anlassbezogen statt. Man sucht jemanden, weil die Stelle zu besetzen ist oder der Start des Ausbildungsjahres naht. Diese Praxis wird einer stärkeren Zeitraum-betrachtung weichen, bei der langfristige Verbindungen im Vordergrund stehen. In Zukunft geht es darum, frühzeitig Beziehungen zu potenziellen Mitarbeitenden zu knüpfen und zu pflegen – übrigens auch über das Ende eines Beschäftigungsverhältnisses hinaus. Ehemalige stellen in Zukunft attraktive Zielpersonen für das aktive Recruiting dar, das sogenannte „Boomerang Recruiting“ wird sich zu einer wichtigen Disziplin entwickeln.

Das Beschäftigungsangebot selbst wird künftig ebenfalls an den individuellen Anforderungen ausgerichtet. Man passt die Stellen sowohl fachlich-inhaltlich an, als auch in Bezug auf das jeweilige Lebensmodell und die dazu passende Beschäftigungsform. Ein Projektmanager wünscht sich zum Beispiel eine 40-Stunden-Woche mit viel Präsenzzeiten, der andere möchte nur neun Monate im Jahr arbeiten, am besten in einem freien Beschäftigungsverhältnis. Unternehmen müssen in Zukunft agil genug sein, um beides bieten zu können. Denn die Mitarbeitenden sind zunehmend in der Position, diese Wünsche artikulieren und auch durchsetzen zu können.

Potenzial und Passung entscheiden – nicht die Biografie

Heute wird bei der Auswahl von Bewerbenden noch viel in die Vergangenheit geschaut: Welche Ausbildung hat jemand durchlaufen, welche Tätigkeit wurde ausgeübt und wie gut war die Person darin? Doch Tätigkeiten ändern sich mittlerweile so schnell und grundlegend, dass die persönliche Biografie immer weniger über die Eignung aussagt. In Zukunft entscheidet vor allem das Potenzial einer Person, als ihre Fähigkeit und ihr Wille, sich Fähig- und Fertigkeiten anzueignen, die zur Lösung bisher unbekannter beruflicher Probleme erforderlich sind. Arbeitgeber werden deshalb verstärkt mit Tests arbeiten, um die kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz) und Persönlichkeit zu ermitteln.

Daneben muss die Passung stimmen: Die Werte der Person sollten mit den Werten und der Kultur des Unternehmens harmonieren (Cultural Fit). Die Machtverschiebung in Richtung der Bewerbenden wird dazu führen, dass diese eine hinreichende Wertepassung nicht nur stärker einfordern, sondern auch durchsetzen können. Heute beschreiben viele Unternehmen ihre Kultur mit wenig aussagekräftigen Floskeln. In Zukunft ist hier eine griffigere Kommunikation gefragt. Es gibt keine Unternehmenskultur, die jedem passt. Firmen sind also gut beraten, ihre Kultur authentisch zu beschreiben, um so potenziellen Einsteigern Klarheit darüber zu vermitteln, ob sie passen oder nicht.

Das Ziel ist „Matching durch Kennenlernen“

Wenn es um das Thema Matching geht, wird meist viel über Technik gesprochen, über Predictive Analytics oder Big Data Diagnostics. Dabei handelt es sich beim Matching erst in zweiter Instanz um eine Frage der Technik. Vielmehr geht es darum, die Passung anzugleichen, nicht nur fachlich-inhaltlich, sondern auch hinsichtlich weicher Merkmale wie Interessen, Persönlichkeit und Kultur. Eine klar definierte Arbeitgebermarke kann diesen Prozess verbessern, weil sie dafür sorgt, dass sich die passenden Kandidaten angezogen fühlen und diese zudem klarere Erwartungen haben. Zu dieser „clarity of expectations“ kann zum Beispiel ein virtueller Unternehmensrundgang, eine Fallstudie oder eine Sammlung von Mitarbeiter-Testimonials beitragen. Das Ziel für die Zukunft heißt „Matching durch Kennenlernen“: Kandidatinnen und Kandidaten erfahren schon im Vorfeld, wie es beim Arbeitgeber zugeht, was eine spezielle Tätigkeit dort ausmacht und was dafür benötigt wird.

Auch Computerspiele gehören künftig zum Werkzeugkasten in der Personalgewinnung. Sie steigern nicht nur die Attraktivität des Arbeitgebers, sondern lassen aus dem im Spiel gezeigten Verhalten auch auf auswahl-relevante Personenmerkmale schließen. Wir selbst haben bei CYQUEST im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit einem Medienkonzern einen Algorithmus darauf trainiert, aus unstrukturierten Stellenanzeigen valide abzuleiten, welches Persönlichkeitsprofil der ideale Kandidat für die jeweilige Stelle haben sollte. Dies wiederum stellt die Basis dafür dar, dass eben diese Stellenanzeige auch bevorzugt darauf passenden potenziellen Kandidaten angezeigt wird.

Von Mensch zu Mensch, aber doch nicht kohlenstofflich…Das Metaversum

Kaum eine Entwicklung befeuert die Fantasie der Techbranche zurzeit so wie das sogenannte Metaversum (Metaverse). Der Begriff bezeichnet eine Verschmelzung physischer und virtueller Realität durch technologische Hilfsmittel wie Augmented- und Virtual-Reality-Brillen, Datenhandschuhe oder haptische Bodysuits. Durch diese werden verschiedene Sinneswahrnehmungen so realistisch simuliert, dass man den Eindruck hat, sich in einer physischen Welt zu befinden, die jedoch teilweise oder sogar vollständig künstlich ist. Viele sehen im Metaversum die nächste Evolutionsstufe des Internets: ein Netz, das sich von einem zweidimensionalen Informations- und Interaktionskanal zu einem immersiven und dreidimensionalen, letztlich „begehbaren“ Ort entwickelt – from Scrolling to Strolling …

Für das Employer Branding bietet das Metaversum durchaus Chancen. Arbeitgeber können in der simulierten Welt die berufliche Realität transparent und realistisch vermitteln – und so die Selbstselektion verbessern. Zu Zwecken der Berufsorientierung oder für Self-Assessments bietet das Metaversum nahezu unbegrenzte Möglichkeiten: virtuelle Rundgänge, Praktika, Übungen, Simulationen, all das kann bereitgestellt werden – für eine wahrhaft Realistic Job Preview.

Im Metaversum ließen sich zudem beobachtungsbasierte Beurteilungsverfahren virtuell durchführen, zum Beispiel solche, die heute oft in Auswahltagen und Assessment Centern gebündelt werden. Kandidat und Assessoren treffen sich im Metaversum für Gruppendiskussionen, Rollenspiele, Interviews und Tests. Zudem wäre es möglich, quasi real an Problemstellungen zu arbeiten. Man könnte beispielsweise die handwerkliche Geschicklichkeit direkt überprüfen, indem man dem Kandidaten einen Werkzeugkasten bereitstellt, aus dem dieser sich den Schraubendreher nehmen und die richtige Schraube in das passende Gewinde drehen muss.

Mithilfe des Metaversums könnten Auswahlverfahren, die bislang die physische Zusammenkunft von Assessor und Assessee voraussetzen, ins Internet umziehen. Doch nicht nur das. Da das Metaversum keine physikalischen Limitierungen hat, können auch Arbeitsproben abgenommen werden, die in der realen Welt zu teuer, aufwendig oder gefährlich wären: Den Azubi- Bewerber für eine Ausbildung zum Windenergietechniker auf ein 280 Meter hohes Windrad mitten in der Nordsee stellen und ihn bitten, eine Schraube festzudrehen? Im Metaversum geht das!

Wann und in welcher Durchdringung das Metaversum sich durchsetzen wird, kann wohl niemand gesichert voraussagen. Die Technologien – sei es Microsoft Mesh oder Workroom Horizon von Meta – sind bereits verfügbar, wenngleich deren Nutzung immer noch etwas sperrig ist. Aber die Möglichkeiten, mithilfe des Metaversums die Personalgewinnung im wahrsten Sinne „immersiv“ zu machen, sind allemal verheißungsvoll.

Eine „neue“ Menschlichkeit? Was steht am Ende all dieser – stark technologisch getriebenen – Entwicklungen? Wird Recruiting in Zukunft von intelligenten Algorithmen durchgeführt, ganz ohne Beteiligung eines Menschen? Selbstverständlich ist ein solches Szenario denkbar. Man kann jedoch auch eine andere Perspektive einnehmen: Wenn zukünftig Algorithmen große Teile des „Zueinanderfindens“ und der Passungsüberprüfung erledigen, also die Negativselektion automatisiert ist, wird viel Zeit frei. Zeit, die genutzt werden kann, wieder mit Talenten zu sprechen, für sie da zu sein und sie zu beraten. Wenn ich über „neue Menschlichkeit“ spreche, dann meine ich genau das: Grundtugenden wie Verlässlichkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, kurzum: Service am Bewerbenden… Zumal der individuelle Beratungsbedarf von Interessenten eher steigen als abnehmen wird. Je personalisierter die individuellen Job-Profile und Arbeitsmodelle werden, desto mehr bedarf es personalisierter Beratungskompetenz, -zeit und -lust auf Seiten des Recruitings. Insbesondere im Bereich der Positivselektion, also der Frage, wer denn nun tatsächlich eingestellt wird, wird zukünftig sehr viel davon abhängen, wie dienstleistungsorientiert das Recruiting agiert.

Quellen:

World Economic Forum: „Future of Jobs Report“

Dr. Manfred Böcker und Sascha Theisen: „Club der Gleichen“

Chris O’Brien 2016: ”Netflix´s Reed Hastings says decisi- ons on programming based on both data and gut instincts”

J. Diercks: „Virtuelle VR-Konferenzen: Sehen so die Assessment Center der Zukunft aus?“

J. Diercks_ „Holoportation: Interviews (und Assessment Center) auf dem Holodeck. Keine Science Fiction mehr…“


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