Verantwortliche Unternehmensführung zwischen Anpassungsdruck und nachhaltiger Neuausrichtung

Gast-Autor: Dr. Frank Mastiaux, Ehemaliger Vorstandsvorsitzender der EnBW Energie Baden-Württemberg AG
Erschienen in “Entwickeln Sie ZUKUNFTS_KRÄFTE – Wer gestaltet das Morgen?”, 2022

Über Nacht wird das traditionelle Geschäftsmodell infrage gestellt – in dieser Lage könnten sich künftig viele Unternehmen wiederfinden.
Dr. Frank Mastiaux, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der EnBW, schildert, wie das Energieversorgungsunternehmen den radikalen Wandel gemeistert hat.

Wir leben in einer Welt, in der die Veränderungen in mehrfacher Hinsicht eine neue Qualität erreichen. Sie sind komplexer, tiefgreifender und laufen schneller ab, als wir es aus der Vergangenheit kennen. Entwicklungen in der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz, aber auch die Energie- und Mobilitätswende treiben und erzeugen fundamentale Neuerungen. Diese Themen prägen alle Lebensbereiche der Menschen und erfassen gleichzeitig ganze Industrien, die in der Folge mit heftigen Strukturbrüchen konfrontiert sind.

Industrielle Strukturwandel und -brüche gab es schon immer. Dennoch werden diese jedes Mal gefühlt als überraschend wahrgenommen. Vermutlich, weil man oft erst durch einprägsame symbolische und spektakuläre Ereignisse darauf aufmerksam wird. Tatsache ist aber, dass solche Strukturbrüche sich meist lange vor ihrer nicht mehr zu übersehenden Manifestation entwickelt haben. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass gerade etablierte Unternehmen in ihren erfolgreichsten Zeiten keinen effizienten Radar dafür haben, um frühzeitig Veränderungen anzustoßen. Ein Grund für dieses immer wieder zu beobachtende Verhalten ist die Hemmung, sicheres Terrain in guten Zeiten zu verlassen und auf dem „All Time High“ sein Geschäftsmodell infrage zu stellen.

Erneuerbare Energien und Atomausstieg bringen den Systembruch

Dieses Verhaltensmuster gegenüber tief greifenden Veränderungen lässt sich auch in der Energiewirtschaft erkennen. Die Entwicklung rund um den Ausbau der erneuerbaren Energien wurde von etablierten Spielern der Branche über viele Jahre hinweg nur verzögert und geradezu ungläubig wahrgenommen. Die Energieversorger hatten jahrzehntelang mit einer gut funktionierenden und ökonomisch auskömmlichen Logik zentrale Kraftwerke betrieben und die erzeugte Energie an dezentrale Kunden verteilt – zuverlässig und auf hohem technischem Niveau. Mit dem materiellen Aufstreben der erneuerbaren Energien und den Folgen für die Energiemärkte und Strompreise sowie dem finalen Ausstiegsbeschluss aus der Atomkraft in 2011 stellte sich gefühlt über Nacht der Zusammenbruch des traditionellen Geschäftsmodells ein.

Auch die EnBW bildete hier keine Ausnahme. In den Jahren nach Fukushima, kurz nach dem „All Time High“ in der Profitabilität, verlor das Unternehmen rapide an wirtschaftlicher Kraft. Alle klassischen Aspekte eines Strukturbruches kamen zum Tragen. Ein traditionelles und erfolgsverwöhntes, aber eindimensional auf Großkraftwerke ausgerichtetes Geschäftsmodell und damit ebenso einseitig ausgebildete Kompetenzen prägten die EnBW wie auch andere Energieversorger. Das Ganze war fest eingebettet in Strukturen, Prozesse und ein Führungsmodell, das von A bis Z auf Kontinuität und nicht auf Veränderung ausgerichtet war.

Am Anfang steht die Erkenntnis, dass der Wandel unvermeidbar ist

Es wurde sehr schnell sehr deutlich, dass hier keine punktuelle, sondern eine grundlegende Veränderung im Unternehmen angestoßen werden musste. Und das möglichst schnell. Folglich wurde ein einschneidender Umbauprozess begonnen, der bis heute andauert. Ein wesentlicher Startpunkt der Veränderung war die Kommunikation, und hier die explizite und ungeschminkte Feststellung, dass ein umfassender und in manchen Teilen schmerzhafter Wandel unvermeidbar sein würde. Dies in Kombination mit dem Versprechen und dem Appell, die erforderlichen Veränderungen ohne Blick in den Rückspiegel oder ohne Suche nach Schuldigen, also ausschließlich mit dem Blick nach vorn, anzustoßen.

EnBW war klar, dass es für einen solchen Wandel unterschiedlicher Hebel bedurfte. Um den Sprung in eine neue Welt zu schaffen, entwickelten wir 2012 mit einem Team aus eigenen Mitarbeitern, also ohne eine Vielzahl Externer, ein klares Zielbild für die EnBW im Jahre 2020 und eine ebenso konkrete Strategie für den notwendigen Umbau. Diese Strategie setzen wir bis heute ohne Änderung von Kennzahlen und Zielen konsequent um. Unsere Mitarbeiter wussten so von Beginn an, welche Ziele und Erwartungshaltung mit dem Umbau verbunden sind, und konnten sich umso frühzeitiger voll und ganz auf die Sache selbst und auf die Umsetzung konzentrieren.

Tausend Türen in den Büros ausgebaut

In unserer Strategie identifizierten wir drei Hebel, um das Unternehmen aus seiner Schieflage herauszusteuern:

1.   Kompletter Umbau unseres Geschäftsportfolios
Ein wesentlicher inhaltlicher Fokus lag auf der konsequenten Ausrichtung auf erneuerbare Energien bei gleichzeitiger Abkehr von unwirtschaftlichen und CO2-lastigen konventionellen Kraftwerken. Durch den damit einhergehenden Asset- und Kompetenzaufbau waren wir z. B. in der Lage, als erstes Unternehmen im Bereich Wind Offshore und Solarenergie große Projekte zu bewerkstelligen, die sich erstmals ausschließlich über den Markt, also ohne staatliche Förderung, finanzierten.

2. Drastische Verbesserung von Performance und Effizienz
Angesichts des rapiden Verfalls von Ertrag und Rendite war es entscheidend, parallel zu vielen Wachstumsinitiativen auch auf der Kosten- und Effizienzseite anzusetzen. So wurden mehrere Effizienzprogramme aufgelegt, die halfen, jeden dritten beeinflussbaren Euro der ursprünglichen Kostenbasis einzusparen. Dazu gehörte auch ein Stellenabbau, der aber ohne betriebsbedingte Kündigungen auskam.

3. Grundlegender Wandel der Unternehmenskultur
Gleichzeitig arbeiteten wir von Anfang an mit großer Entschlossenheit daran, das Unternehmen nicht nur inhaltlich und strategisch, sondern auch kulturell neu aufzustellen. Starre und langwierige Entscheidungswege, Silodenken und unzureichende Kommunikation waren klare „Showstopper“. Wir schufen u. a. neue Arbeitswelten, und es etablierten sich offene Bereiche. Eintausend Türen und noch mehr Wände wurden in unseren Gebäuden ausgebaut. Die Kommunikation wurde über alle Ebenen hinweg mit verschiedenen passgenauen Formaten und Medien deutlich verstärkt. Man baute Hierarchien und überbordende Governance-Strukturen deutlich ab und entwickelte die Führungskultur weiter. Diese ist heute deutlich ergebnisorientierter statt prozessorientiert, Mitarbeiterentwicklung ist verstärkt in der Führungsarbeit verankert.

Darüber hinaus steigerten wir die Innovationskraft des Unternehmens deutlich. Unsere Mitarbeiter haben die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen einzubringen und beispielsweise in einem Innovationscampus ein Start-up zu gründen. Dort kann abseits der Konzernprozesse und unterstützt durch ein professionelles Innovationsmanagement gearbeitet werden. Inzwischen haben wir mehrere Start-ups ausgegründet und erleben erste wirtschaftliche Erfolge. Das führte zu positiven kulturellen Veränderungen im gesamten Konzern, z. B. im Umgang mit dem Scheitern und im Handeln als Unternehmer. Innovation aus eigener Kraft wird ergänzt durch eine Venture-Capital-Einheit, die sich an externen Start-ups beteiligt. Dies sorgt für weitere wichtige Impulse.

Gleichzeitig Disruption und Kerngeschäft – ein schwieriger Spagat

Die genannten Maßnahmen der Veränderung werden auch in den kommenden Jahren kontinuierlich und konsequent fortgesetzt. Viele Abläufe, die sich in den vergangenen Jahrzehnten etabliert hatten, brauchen lange, um sich aus ihrer Starre zu lösen. In Zukunft müssen Neuerungen, die wir außen wahrnehmen, noch schneller anwendbar und als Chancen kommerziell genutzt werden. Außerdem versuchen wir verstärkt antizipativ zu handeln, gerade weil weitere Strukturbrüche zu erwarten sind. Die Digitalisierung bringt neue Geschäftsmodelle und -spieler aufs Feld. Das macht die Energiewelt komplexer und hebt sie in eine ganz neue Phase.

Im Ergebnis müssen wir künftige Entwicklungen ständig im Blick haben und uns noch einmal in Vorbereitung auf die Zukunft neu erfinden. Anders als zuvor befinden wir uns jetzt allerdings nicht mehr auf einer Aufholjagd, sondern haben gestalterischen Spielraum. Dabei legen wir unseren Fokus auf drei Kernaspekte:

Auf diesem Weg werden wir weiterhin geordnete Prozesse und Strukturen etablierter Geschäfte parallel und gleichzeitig mit einem Start-up-Umfeld managen müssen. Dies ist nicht trivial: Disruption und Kerngeschäft sind unterschiedliche Betätigungsfelder. Bei digitalen Innovationen wollen wir stets hinterfragen, welchen Mehrwert sie wirklich bieten. Dabei gilt zu beachten, dass nicht jeder ein Digital Native ist. Die Digitalisierung wird oft mit einer Bandbreite von Schlagwörtern und Abkürzungen assoziiert, die nicht alle Welt intuitiv durchdringt. Hier gilt es, Mitarbeiter mitzunehmen und zusammenzubringen, damit ein Unternehmen durch die Digitalisierung inklusiver wird und nicht Menschen ausschließt.

Selbst wenn der Wandel auf der Hand liegt, braucht es Ausdauer, ihn anzuschieben

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es ein Balanceakt ist, auf Anpassungsdruck zu reagieren und gleichzeitig nicht mit jedem neuen Wind umzuschwenken. Es gilt, trotz Unsicherheiten und Ambiguitäten klare und stetige Ziele zu entwickeln und zu implementieren. Umso wichtiger ist es, eine dauerhafte und klar formulierte Perspektive zu haben, die Halt gibt und gerade in Umbruchszeiten notwendig ist.

Aus eigener Sicht an der Unternehmensspitze ist ein solcher Umbauprozess auch eine höchst intensive und persönliche Lernerfahrung, in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel, wie viel Veränderung man mit einer existierenden Mannschaft durch eine Neuausrichtung des Denkens und Handelns schaffen kann, selbst wenn die Mehrzahl der Mitarbeiter zwangsläufig einen eher konventionellen Erfahrungshintergrund hat. Und wie wichtig es ist, sich buchstäblich im richtigen Team zu finden und einzufinden, um erfolgreich zu sein. Leicht überraschen kann der Grad der erforderlichen Ausdauer, die in dem täglichen Anschieben, Nachhalten und Anmahnen von Veränderung an der Unternehmensspitze zu leisten ist, selbst wenn der „Case for Change“ scheinbar auf der Hand liegt. Diese „tagtägliche Kärrnerarbeit“ zur Umsetzung des Plans von der Spitze des Unternehmens mit Wirkung bis zum einzelnen Mitarbeiter, wird in MBA-Kursen nicht hinreichend adressiert.


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