Alle wollen Digitalisierung, aber jeder will etwas anderes.

Gastbeitrag von Prof. Dr. Tim Weitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Dienstleistungen an der Universität Bamberg und Leiter des Centre of Human Resource Information Systems (CHRIS)

Über die Hälfte der offenen Stellen in Deutschland ist derzeit nicht oder nur mit erheblichem Aufwand besetzbar. Dieser Anteil steigt seit über zehn Jahren kontinuierlich, und der Trend hält allen Krisen zum Trotz an. Abhilfe soll eine Black Box namens „Digitalisierung“ schaffen. Doch was der Begriff genau bedeutet, bleibt meist offen. Dabei ist Digitalisierung mehr als Technik – und moderne Rekrutierung mehr als Digitalisierung.

Vier von fünf deutschen Unternehmen halten eine erfolgreiche digitale Transformation der Personalbeschaffung derzeit für überlebenswichtig. Solche Umfrageergebnisse zeigen, dass in vielen Organisationen umgedacht wird: Die Skepsis gegenüber Technik und Kennzahlen verschwindet, IT, Daten und Automatisierung werden positiver gesehen. Man baut darauf, mithilfe von Technik wieder mehr Talente ködern zu können und ganz neue, innovative Wege zu Kandidaten und Kandidatinnen zu finden. Bewerbende auf der anderen Seite erhoffen sich eine bessere Jobsuche und simplere Abläufe. Sie erwarten nicht nur einen Arbeitgeber, der „social“ ist – authentisch und ehrlich –, sondern der auch schnell kommuniziert, am besten „mobile“, also smartphoneoptimiert.

Die erste Beschleunigungswelle begann in den 1990er Jahren mit dem Aufkommen des E-Recruiting. Wenn ein Unternehmen damals eine Stelle zu besetzen hatte, veröffentlichte es in der Regel in Zusammenarbeit mit einer Agentur eine Print-Stellenanzeige und selektierte papierbasierte Bewerbungen. Printanzeigen wurden dabei in der Regel samstags veröffentlicht, und erste Bewerbungen trafen erst dienstags bei den Unternehmen ein. Dann erlebte das Netz seinen Durchbruch, und plötzlich ließen sich Anzeigen jederzeit auf Unternehmens-Webseiten und Karriereportalen veröffentlichen; zugleich konnten sich Interessierte sofort melden. Gero Hesse, damals Senior Vice President Human Resources bei der Bertelsmann AG, fasste diese erste internetgetriebene Beschleunigung der Rekrutierungsabläufe so zusammen: „Im Internet ist immer Dienstag.“

24 Stunden auf eine Eingangsbestätigung warten? Dann ziehen die Talente weiter.

Mobilgeräte, Flatrates und Social Media haben das Kommunikationsmodell in den letzten Jahren endgültig verändert: Aus dem asynchronen Monolog – das Unternehmen sendet Informationen – ist der synchrone Dialog geworden: Partner reden miteinander. Gleichzeitig ist die Erwartungshaltung der Talente stetig gestiegen: Heute ist es gerade jungen Menschen nur noch schwer zu vermitteln, dass mehr als drei Minuten Antwortzeit über digitale Dialogkanäle keine mangelnde Wertschätzung oder fehlerhafte Technik des Arbeitgebers bedeuten. Selbst bei früher als exzellent geltenden Reaktionszeiten von 24 Stunden sind die Gefahren inzwischen groß, dass der Fisch den Köder liegen lässt und weiterschwimmt.

Was war die schlechteste Erfahrung im letzten Bewerbungsprozess? Auf diese Frage antwortete die Mehrheit der Bewerbenden in unserer Umfrage: die Wartezeit („Die haben mich hingehalten“). In der Tat hat sich die Zeit zwischen Bewerbungseingang und inhaltlicher Rückmeldung bei den größten 1.000 Unternehmen in Deutschland in den letzten 15 Jahren nicht verbessert. Testzuschriften innerhalb verschiedener Unternehmen eines Konzerns zeigten zwischen Eingang der Bewerbung und einer reinen Bestätigung eine Spanne von zwei Sekunden bis über zwei Wochen. Gibt es nach zehn Minuten keine Empfangsbestätigung, denken vor allem jüngere Frauen, etwas sei schiefgegangen, und bewerben sich vorsichtshalber noch bei einem weiteren Unternehmen. Eine offensichtliche Lösung wäre hier ein IT-System, das zumindest automatisierte Eingangsbestätigungen versendet. Als „beste Bewerbungs-Erfahrung“ schrieb übrigens die Mehrheit der Befragten ins Freitextfeld: „Gar nichts.“

Alle reden über Chat-Bots – aber nur wenige mit ihnen

Über das Ziel besteht also Einigkeit: Alles muss schneller gehen. Und Digitalisierung beziehungsweise Automatisierung sollen es ermöglichen. Zugleich hegen viele Arbeitgeber die Hoffnung, Elektronik werde alles einfacher und besser machen. So erwarten über 90 Prozent der deutschen Recruiter, dass Digitalisierung dazu beitragen kann, sie von Routinearbeit zu befreien und ihnen mehr Zeit für strategische Arbeit zurückzugeben. Ein Instrument, das dabei helfen soll, sind KI-gestützte Chat-Bots. Tatsächlich eignen sich Dialogroboter sehr gut dazu, immer wiederkehrende Standardfragen zu beantworten. Zugleich liefern sie den Bewerbenden schnellere und konsistentere Auskünfte.

Dies ist vielversprechend und kann sowohl die Candidate Experience als auch die Prozessqualität verbessern, bringt aber auch neue Herausforderungen. Dazu gehört die Frage, wie verantwortungsbewusst mit KI und Automatisierung umzugehen ist.

Trotz vieler Projekte mit (und Aufregung über) Chat-Bots ist die tatsächliche Nutzung im Tagesgeschäft aber noch nicht über die Experimentierphase hinausgekommen.

„Alexa, empfiehl mir einen passenden Job … aber lies nicht meine Daten“

Ähnliches gilt für Job-Recommender-Systeme, die Kandidaten geeignete Jobs empfehlen und von erstaunlich vielen – vor allem jüngeren – Stellensuchen- den auch schon genutzt werden. Sie hätten gerne viel mehr solcher Systeme („Alexa, welcher Job passt zu mir?“), und jeder dritte Befragte der Recruiting Trends 2020 hat sich auf diesem Weg schon auf eine Stelle beworben, die für ihn sonst niemals in die engere Auswahl gekommen wäre. Automatisierte Empfehlungen aufgrund größerer Datenmengen sind vor allem im E-Commerce schon seit 30 Jahren bekannt und dürften auch im Personalbereich eine interessante Zukunft vor sich haben.

Insgesamt klafft beim Thema Empfehlungen jedoch noch eine häufig unterschätzte Lücke in der Kommunikation von Unternehmen – sowohl nach außen als auch nach innen. Auf die Frage, wer in Sache Karriere der beste Ratgeber sei, geben die meisten Aufstiegswilligen externe Personalberater und Freunde an (noch vor Universitätsprofessoren). Als die schlechtesten Ratgeber werden die Mitarbeiter der eigenen HR-Abteilung empfunden. Hier liegen vor allem bei größeren Unternehmen noch Potenziale zur Mitarbeiterbindung brach. Warum nicht einen internen Arbeitsmarkt mit Empfehlungen zum Karrierepfad aufbauen?

Vordergründig beurteilen Bewerbende ein Plus an Technik oft positiv. Man rechnet sich zum Beispiel größere Chancen aus, wenn ein Algorithmus aus dem elektronischen Bewerbungsstapel eine Vorauswahl trifft.

Gleichzeitig lässt sich gerade bei den Jüngeren eine wachsende Ängstlichkeit in Bezug auf eine digitalisierte Zukunft beobachten. Man will Skype-Vorstellungsgespräche statt lästiger Bewerbungsreisen, hat aber Angst vor einer unergründlichen KI, die eventuell im Geheimen eine Eignungsprüfung vornimmt.

Solche Systeme sind mit Blick auf die langjährige und solide empirische Basis der Forschung zur Eignungsdiagnostik zwar durchweg unseriöse HR-Astrologie, machen aber trotzdem Angst. Außerdem gilt: Je jünger die bewerbende Person, desto geringer die Neigung, den Empfehlungs-Bots Zugriff auf die persönlichen Daten zu geben.

Auch Arbeitgeber sind in Bezug auf mehr Technik oft zwiegespalten. Recruiter zeigen sich KI gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen, sehen aber gleichzeitig Gefahren für das Unternehmensimage und verlangen von den Entscheidungen einer Maschine mehr Transparenz, als sie bei Menschen in der Regel möglich ist. Digitalisierung ist also ebenso Notwendigkeit und Hoffnung wie Gefahr – und Fakt und Fiktion sind schwierig zu unterscheiden. Doch wo stehen die Unternehmen tatsächlich auf dem Weg zur Digitalisierung der Personalbeschaffung, und welcher Weg führt in die Zukunft?

Automatisierung: Das IT-Tal der Tränen

Ein wichtiger Weg zu schnelleren und besseren Rekrutierungsprozessen ist die Automatisierung. Hierzu haben die Betriebe eine klare Zukunftsvision: Die größten 1.000 deutschen Unternehmen glauben, dass ihre Prozesse in den Bereichen Bewerbermanagement, Anzeigen, Karriereseiten oder Personalmarketing im Jahr 2030 zu recht großen Teilen automatisiert sein werden. Bis dahin bleibt allerdings noch ein gutes Stück Weg: Die Veröffentlichung von Werbe- und Stellenanzeigen ist laut Unternehmensangaben zu 77 Prozent automatisiert, auf maximal 49 Prozent kommt man bei Active Sourcing und Kandidatenvorauswahl, auf 20 Prozent bei der Endauswahl. Alle Firmen rechnen damit, dass der IT-Einsatz in der Personalbeschaffung in zehn Jahren gleichsam effektiv wie effizient abläuft und genug hochqualitative Daten zur Verfügung stehen. Nur gerade jetzt im Moment sei alles schwieriger, so die Einschätzung. Diese Beobachtung ist allerdings nicht HR-spezifisch und findet sich auch in vielen anderen Unternehmensbereichen.

Digitalisierung erfordert Standardisierung und Kennzahlen zur Individualisierung

Moderne Geschäftsprozesse sind wie Legosteine. Aus standardisierten Elementen lassen sich flexibel und individuell unendlich viele Burgen, Raumschiffe und andere Objekte zusammensetzen. Die schöne Tugend des Geschäftsprozessmanagements bietet seit vielen Jahren die Konzepte und Werkzeuge hierzu, ist aber traditionell gerade in Sekundärprozessen ebenso wenig geliebt wie Controlling-Kennzahlen. In einem Reifegradmodell für Rekrutierungsprozesse auf einer Skala von eins (niedrige Prozessstandardisierung) bis sieben (hohe Prozessstandardisierung) stehen die deutschen Top-1.000-Unternehmen über alle Branchen hinweg bei akzeptablen 5,0. Die Zahl reflektiert, dass sich Rollen-/Rechtemodelle verbreitet haben und akzeptable Schnittstellen sowie Prozessdokumentationen zur Verfügung stehen. Nachholbedarf indes besteht vor allem bei der Ausrichtung der Prozesse an den Unternehmenszielen und der Verfügbarkeit bzw. Nutzung objektiver Kennzahlen.

Bereit zur Digitalisierung?

Wie weit sind die deutschen Firmen auf dem Weg zur Digitalisierung der Personalbeschaffung? In Anlehnung an gängige 7-stufige Reifegradmodelle zu Prozess-Exzellenz, IT-Architektur und Governance liegen die deutschen Top-1.000-Unternehmen im Durchschnitt aller Branchen bei einem Score von 4,1.

Unternehmen der IT-Branche, die häufig mit ihren Rekrutierungsaktivitäten und -initiativen Vorreiter sind, liegen bei 4,5. Dieser Wert zeigt an, dass es einigermaßen kontrollierbare Prozesse, starke Kosten- und Leistungsschwankungen, aber durchaus eine stetige Suche nach Verbesserungspotenzialen gibt. Die nächsten Schritte umfassen dann vor allem explizitere quantitative Ziele (objektive Evaluierungen), den Auf- und Ausbau eines kontinuierlichen Prozess-Controllings und explizites Technochange Management. Das sind keine klassischerweise im HR-Bereich geliebten Aufgaben, aber zuverlässige Wege zu besseren Prozessen als bei der Konkurrenz, und daher sicherlich die Zukunft erfolgreich rekrutierender Unternehmen.

Aus mehreren Jahrzehnten Erfahrung mit IT-Projekten lässt sich zweierlei lernen:

  1. Ist das Projektziel die Einführung einer Technologie („Wir brauchen KI!“), wird das Projekt ein teurer Flop.
  2. Ist das Ziel dagegen die Lösung eines systematisch identifizierten Problems („Wir müssen schnell auf Anfragen der Zielgruppe X zu Thema Y antworten können und entwickeln daher eine KI“), tritt der Erfolg wahrscheinlich ein.

Doch selbst wenn das Projektziel ausreichend spezifisch ist, bleibt eine zweite Herausforderung: Das neue System bzw. der neue Prozess muss auch wirklich genutzt werden. Technik und Prozesse sind wie Fitnessgeräte. Der teuerste Heimtrainer reduziert den Blutfettwert nicht, wenn er unbenutzt im Keller steht. IT-Projekte sind daher nur erfolgreich, wenn ein funktionierendes System nicht vermieden und umgangen wird. Dafür müssen die zukünftigen Nutzer – intern wie extern – von Anfang an beteiligt werden.

Das ist der Kern des Vorgehens, das „agil“ genannt wird – und damit auch eine grundlegende kulturelle Frage. In allen Unternehmensbereichen hat sich gezeigt, dass Digitalisierung dann erfolgreich ist, wenn auch das Aufbauen einer digitalen Kultur gelingt oder diese schon vorhanden ist. Rekrutierungsprozesse sind hier keine Ausnahme. Ein aktueller Benchmark zeigt, dass Digitalisierungs-Champions nicht nur erfolgreicher sind in Active Sourcing und Stellenbesetzung, Social-Media-Einsatz und Employer Branding, sondern auch besser bei Arbeitsklima und Work-Life-Balance der Mitarbeiter. Die Zukunft der Personalbeschaffung ist auf jeden Fall digitaler, aber erfolgreiche Digitalisierung ist vor allem professioneller und persönlicher.

Erschienen in “Entwickeln Sie ZUKUNFTS_KRÄFTE – Wer gestaltet das Morgen?” 


1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne

Archiv

0228 265004