Executive Coaching als Beitrag zur strategischen Führungskräfteentwicklung
Autorin: Stephanie Boeker, Dipl. Psychologin, Senior Beraterin und Partnerin im Geschäftsbereich Führungskräfteentwicklung, Managementdiagnostik, Executive Coaching und Karriereberatung
Die großen Veränderungsthemen Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel beschäftigen uns seit mehr als einem Jahrzehnt. Zukunftsforscher waren bei diesen Trends einen Schritt voraus, während sie in der HR-Szene oft als „alter Wein in neuen Schläuchen“ abgetan wurden. Gleichzeitig blieb man bei altbewährten Vorgehensweisen – 70-20-10 etwa – und ordnete die eigenen Instrumente dem Business unter. Die Komfortzone blieb unangetastet, weil es wirtschaftlich keine wirkliche Notwendigkeit zur radikalen Veränderung gab.
Dann kam die Zeit von Veranstaltungen und Kongressen zum Thema „Proud to be HR“: Ein neuer Typus Personaler wurde ausgerufen, der das Business tatkräftig und im engen Austausch unterstützt. In der Praxis wurde dieser „Businesspartner“ jedoch eher als Hindernis erlebt. Das Management war noch mit anderen, „operativen“ Themen beschäftigt.
Vielerorts hat sich an dieser Lage nichts geändert. Die Personalfunktion steckt weiter in einem permanenten Rollenkonflikt zwischen Verwaltung und aktiver Gestaltung fest. Egal, wie sie sich aufstellt, es ist verkehrt. Währenddessen bricht eine disruptive Welle nach der anderen über der Wirtschaft zusammen: Industriegeschichte wird neu geschrieben, und welche Möglichkeiten sie bringt, lässt sich nur erahnen.
Klar ist jedoch: Der neuen, von Veränderungen und Komplexität geprägten Welt (VUCA-World), muss man mit einer neuen Haltung begegnen. Ganze Wirtschaftsbereiche sind einfach weggebrochen. Wir müssen uns neu erfinden. Es braucht endlich „neuen Wein in neuen Schläuchen“. Oder sollten wir erst einmal den „alten Wein“ leeren?
Ansonsten droht Deutschland im internationalen Wettbewerb endgültig abgehängt zu werden.
Wenn neue Methoden auf alte Strukturen treffen
Die Disruption liegt dem Menschen nicht. Er ist und bleibt, psychologisch gesehen, ein „Gewohnheitstier“ und hat grundsätzlich eine tiefe Angst vor Veränderungen. Allein das Wort „Transformation“ löst in Management und Belegschaft vielerorts großes Unbehagen aus. Bei Strategiethemen wie „Kollaboration beats Silo“ erstarren viele Unternehmen eher, als dass sie neugierig und flexibel auf die Veränderung reagieren. Besitzstandswahrung, Hierarchien, bestehende Machtstrukturen und über Jahrzehnte mühsam aufgebaute Netzwerke und Karrierepfade treffen auf agile Methoden wie Scrum oder Design Thinking.
Welche Konflikte drohen, wenn die alte auf die neue Zeit trifft, lässt sich schon erahnen. Was passiert zum Beispiel, wenn eine weibliche Führungskraft in einem Traditionsbetrieb, der von einem autoritären Inhaber geführt wird, auf einmal Design Thinking in Forschung und Entwicklung einführen soll? Und was ist, wenn dieser Betrieb vom Wettbewerb schon in die Defensive gedrängt wurde? Massive Angst wäre die Folge. Keiner möchte eine Entscheidung treffen, am liebsten würden alle abwarten.
Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. Immer wieder wird in deutschen Unternehmen die Entscheidungslosigkeit des Managements beklagt, der Lähmschicht in der Mitte der Organisation.
Ihre bremsende Wirkung sollte tatsächlich nicht unterschätzt werden. „Kultur isst Strategie zum Frühstück“, hat Peter Drucker einmal gesagt. Diese Aussage des Altmeisters der Management-Theorie beschreibt präzise den aktuellen Entwicklungsgrad vieler Organisationen. Allerdings ist „Weiter so“ keine Option mehr, dafür ist der Veränderungsdruck viel zu hoch geworden.
Nur eine von zehn Organisationen ist fit für den Wandel
Aktuell findet sich in den wenigsten Unternehmungen eine Organisations- und Führungskultur, die Wandel ermöglicht. Nur zehn Prozent der Firmen in Westeuropa sind es laut Studien. Alte Machtstrukturen, Angst und Unsicherheiten gehören noch immer zum Managementalltag und verhindern eine Innovationskultur, die notwendig wäre, um im Wettbewerb zu bestehen. Wie es in den restlichen 90 Prozent der Unternehmungen um die Fehler- und Feedbackkultur bestellt ist, kann man sich entsprechend vorstellen. Besonders interessant – und psychologisch nachvollziehbar – sind Studienergebnisse, die belegen, dass gerade in Change- und Transformationsvorhaben die Selbstzweifel von Führungskräften und insbesondere im Topmanagement extrem ansteigen (72 Prozent). Die entscheidende Frage in den kommenden Jahren wird lauten: Wie entwickeln wir zügig eine Führungs- und Unternehmenskultur, die den Wandel unterstützt? Wie verwandeln wir Veränderungsfrust, Angst und Unsicherheiten in Veränderungslust und positive Energie – zum Beispiel, um die Digitalisierung anzupacken, bei der vor allem Deutschland hinterherhinkt.
Konzepte, Ansätze, Theorien und Leitbilder zum Thema Führung gibt es genug. In den Medien wird sogar schon diskutiert, ob es in Zukunft überhaupt noch Führung braucht. Doch diese Diskussion weist in die falsche Richtung: Führung wird wichtiger denn je, doch sie wird zugleich anspruchsvoller und muss sich ändern.
Aktuell wird häufig der Führungsansatz der transformationalen Führung von Bernard Bass aufgegriffen – übrigens auch ein sehr guter alter Wein. Neben der bekannten transaktionalen Führung, die den klassischen Managementkreislauf von Ziele setzen, Leistungskontrolle, Feedback und Belohnung versus Bestrafung abbildet, rückt die Sinnfrage, „Purpose/ Meaning“, stärker in den Mittelpunkt des Führungshandelns. Warum machen wir das Ganze? Diesem Ansatz folgend, gewinnen sinnorientierte Themen an Bedeutung – wie Vorbildhandeln, Inspiration, geistige Anregung und individuelle Motivation des Einzelnen. Sie ergänzen den transaktionalen Ansatz sinnvoll.
Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen nach gut ausgebildeten Menschen, die eigenverantwortlich, neugierig, offen, kreativ und kollaborativ agieren. Gebraucht werden Führungskräfte, die mutig, strategisch und selbstsicher unter Unsicherheiten Entscheidungen treffen, gleichermaßen klare Strukturen schaffen und andererseits Innovationen aktiv treiben. Die Führungskraft der Zukunft kann sich anpassen, ist bescheiden, selbstreflektiert und verfügt über sehr gute Kommunikationskompetenzen.
Aber wer wird Führungskraft? Diese Frage war in allen Organisationen schon immer zentral – und wird künftig noch wichtiger. Wie entwickeln wir die vorhandene Mannschaft und bereiten sie gezielt auf die Zukunft vor? Sowohl die Personalauswahl als auch die Führungskräfteentwicklung (FKE) bzw. die Personalentwicklung werden aufgrund des demografischen Wandels an Bedeutung gewinnen.
Heute wie morgen gilt zudem: Die Persönlichkeit und die Haltung jeder einzelnen Führungskraft macht den Unterschied.
„Die erste und vorrangige Aufgabe von Führungskräften ist es, sich um ihre eigene Energie zu kümmern, und dann zu helfen, die Energie anderer nutzbar zu machen“, sagt Peter Drucker.
Von der Remote-Revolution zur Führungs-Evolution
Ein Lehrstück in Sachen Veränderungskultur war die breite Einführung von Homeoffice während der Pandemiejahre 2020/2021. In der ersten Phase erlebten viele Führungskräfte einen absoluten Kontrollverlust. Die Mitarbeitenden waren nicht mehr am Arbeitsplatz, nicht mehr physisch sichtbar. Führungskräfte stellten sich die Frage, wie Führung im sinnesarmen digitalen Raum gelebt werden sollte. Für viele Führungskräfte bedeutete das zugleich einen Sinnverlust.
Daraufhin wurden Richtlinien, Regeln und Routinen in der digitalen Führung und Zusammenarbeit entwickelt. Doch die Unsicherheit darüber, wie eng man im digitalen Austausch mit den Mitarbeitenden sein soll, hielt an.
Im nächsten Schritt werden diese Regeln jetzt wieder aufgeweicht, um stärker individuelle Vereinbarungen zu treffen. Das Ziel für die Zukunft lautet: Jede Führungskraft und jeder Mitarbeitende weiß, was wann unternehmerisch sinnvoll getan werden muss, und handelt eigeninitiativ. Die Führungskraft kommt so nicht mehr umhin, zum Manager der Mannschaft zu werden. Sie erfüllt eine Servicefunktion für die Mitarbeitenden und hat vor allem die Aufgabe, eine selbstlernende Organisation zu fördern. Die oft gestellte Gretchenfrage
„Wann finde ich Zeit zum Führen?“ hat sich spätestens jetzt selbst beantwortet.
Angesichts der Veränderungen müssen Führungsaufgaben noch konsequenter wahrgenommen werden. Denn je schneller und extremer sich die äußeren Bedingungen entwickeln, desto stärker treten auch die bisherigen Defizite hervor, und desto deutlicher wird, dass Führung die nächste Evolutionsstufe erklimmen muss. Selbstmanagement- und Kommunikationskompetenzen, also die weichen Faktoren, werden immer stärker zu harten Faktoren, die über Erfolg und Misserfolg in der Führung entscheiden.
Neben der Organisationsentwicklung ist die systematische Führungskräfteentwicklung gefragt. Es gilt, Führungskräfte dabei tatkräftig zu unterstützen, ein „neues“ Rollen- und Selbstkonzept zu leben. Sie müssen konsequent Leadership-Aufgaben übernehmen und Veränderungen erfolgreich in der Organisation umsetzen. Gefragt ist buchstäblich Kraft zur Führung.
Entwicklung der Führungskräfte darf nicht nur Symbolik sein
An dieser Stelle ist übrigens wieder vermeintlich „alter Wein“ empfehlenswert: Die systematische Führungskräfteentwicklung kann nur gelingen, wenn sie als strategische Aufgabe verstanden wird. Das Topmanagement eines Unternehmens, einer Verwaltung oder Organisation muss unmittelbar und aktiv beteiligt sein – nicht nur über Kaminabende, Austauschrunden am Kaffeeautomaten, „One day with Management“ oder andere Formate, die allzu häufig reine Symbolik sind. Dass sich eine Führungsmannschaft über einige Workshops, ein paar teure Managementtrainings oder Coachings entwickeln lässt, ist Wunschdenken. Heute ist es wichtiger denn je, dass sich das Topmanagement aktiv an der systematischen FKE beteiligt. Die Spitze selbst muss offen für Weiterentwicklung sein, zugleich selbstreflektiert, bescheiden und neugierig. Vor allem jedoch muss die entsprechende Haltung mit aller Konsequenz spürbar vorgelebt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Führungskräfteentwicklungsprogramme in Zukunft immer dann Erfolg versprechend sind, wenn sie
- auf einer fundierten, systematischen Potenzialdiagnostik aufbauen
- einen individuellen Entwicklungscharakter erhalten
- im engen Austausch mit dem Topmanagement ablaufen
- strategische und unternehmensrelevante Themen praxisorientiert bearbeiten bzw. mit entsprechenden Führungsimpulsen die Selbststeuerung der Mitarbeitenden stärken.
Executive Coaching macht Organisationen zukunftsfit
Executive Coaching ist im Rahmen der Führungskräfteentwicklung ein hervorragendes Instrument, vor allem, um die notwendigen Selbstmanagementkompetenzen weiterzuentwickeln.
Coaching für Führungskräfte hat seit den frühen 1990er Jahren eine wesentliche Rolle in der FKE eingenommen, und Studien belegen seine Wirksamkeit. Zukünftig sollte Executive Coaching noch stärker genutzt und mit anderen Instrumenten verzahnt werden, um Führungskräfte auf die kommenden Aufgaben und Anforderungen vorzubereiten.
Neue Karrierewege und Karrieremodelle erfordern eine proaktive und stärker individualisierte Führungskräfteentwicklung.
Coachingformate sind zum Beispiel auch im Rahmen von Onboardingprozessen für Top-Führungskräfte sinnvoll, genau wie für Top-Executives, die sich eigeninitiativ für ein Downshifting entscheiden.
In einigen Organisationen lässt sich allerdings noch immer ein stark defizitorientierter Einsatz von Coaching beobachten. Man nutzt es als „Feuerlöscher“ kurz vor der Kündigung, wenn alles andere nicht geholfen hat. Oder Coaching fungiert als Konfliktlösung, wenn die Führung versagt hat. In solchen Organisationen sprechen die Führungskräfte kaum offen über ihr Coaching, da dies als Schwäche interpretiert werden könnte. Der Coach seinerseits verliert in einer solchen Umgebung seine Neutralität und wird Teil des Problems.
Coaching als FKE-Instrument wird in vielen Organisationen auf die Zusammenstellung eines Coachingpools reduziert. Dabei fehlen oft klare Kriterien für die Auswahl von Coaches. Auch hier gilt die entscheidende Frage: Wer wird in unserer Organisation Führungskräfte-Coach? Die Nachfrage nach Ausbildungen in diesem Bereich nimmt seit Jahren zu, gerade seitens interner HR-Kräfte. Doch die Möglichkeit, interne Coaches aufzubauen, wird oft noch zu wenig genutzt. Dabei hebt das Zusammenspiel von internen und externen Coaches die Qualität und Nachhaltigkeit dieses Instruments immens.
Das Potenzial von Executive Coaching wird dann ausgeschöpft und zum Erfolg, wenn folgende Aspekte in der Organisation berücksichtigt werden:
- Das Topmanagement hat eine konkrete Vorstellung von Coaching und zeigt hierzu volles Commitment.
- Die Kultur des Unternehmens lässt den Coachinggedanken zu.
- Coaching wird von der Führung nicht instrumentalisiert.
- Executive Coaching ist eng mit der Strategie des Unternehmens verbunden.
- Executive Coaching ist in die Personalentwicklungsstrategie eingebunden.
- Executive Coaching ist mit anderen FKE-Formaten und -Programmen verzahnt.
- Der Auswahlprozess der Coaches erfolgt nach klaren Kriterien.
- Das Onboarding und die Zusammenarbeit mit den Coaches wird systematisch begleitet.
- Der Coachingbedarf und auch das Matching mit dem geeigneten Coach erfolgt nach einer Systematik.
- Coaching ist kein Selbstzweck, sondern findet im Kontext der Organisation statt. Führungskraft, Coachee und Coach schließen einen Kontrakt.
- Interne und externe Coaches arbeiten eng zusammen.
- Evaluationskriterien sichern den Erfolg. Es geht nicht nur um Zufriedenheit, sondern auch um Messbarkeit von Verhaltensänderungen.
Wir sind mitten in der Transformation unserer Arbeitswelt und stecken gleichzeitig mit der Führungskultur noch in den Kinderschuhen. Wir sind aufgefordert, die Menschen systematisch zu befähigen und zu unterstützen, die neuen Anforderungen zu erfüllen. Nur so werden alle mittel- und langfristig Bestleistungen im Wettbewerb erbringen. Alle Verantwortlichen, vom Top- Management über die Mitarbeitenden bis zu den HR-Beratungen, sind aufgefordert, unmittelbar ins Handeln zu kommen. Alte wie neue Konzepte und Instrumente sind ausreichend vorhanden. Es gilt, wagemutig Führungsverantwortung zu übernehmen und die Vorbildrolle auszufüllen. Jeder ist aufgefordert, in diesem Transformationsprozess seine Rolle und Aufgaben neu zu denken und entsprechend anzupassen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Erschienen in “Entwickeln Sie ZUKUNFTS_KRÄFTE – Wer gestaltet das Morgen?”
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