Das kommende Jahrzehnt wird das Personalressort herausfordern: Unternehmen werden zu Bewerbern, Rekrutieren avanciert zum wichtigsten Vertriebsjob, und dank hybridem Arbeiten gibt es bald nur noch einen Arbeitsmarkt: die ganze Welt. Neue Ideen und harte Schnitte sind gefragt – bis hin zum „Open Hiring“ komplett ohne Bewerbungshürden.
Sid Sijbrandij, Vorstandsvorsitzender des Unternehmens GitLab, hat es morgens nicht weit ins Büro: Er muss nur von der Küche in das Arbeitszimmer seiner Wohnung gehen. Denn das ist sein Vorstandsbüro. Der Niederländer arbeitet ausschließlich im Homeoffice, genau wie seine 1.300 Kolleginnen und Kollegen. GitLab gilt derzeit als größte virtuelle Organisation der Welt. Offizieller Sitz der Firma ist Sijbrandijs Wohnung in San Francisco, doch die Mitarbeitenden sind über 65 Länder verteilt. Persönlich treffen sie sich nur einmal im Jahr: Dann kommen sie in einem Tagungshotel zusammen und haben die Möglichkeit, sich von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen. Die restliche Zeit sehen sich alle nur als Kachel im Videokonferenz-Programm. Bislang fährt die Softwarefirma gut mit dieser Art des Arbeitens: GitLab wächst stark und machte zuletzt einen Jahresumsatz von 150 Millionen US-Dollar.
„Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gleich verteilt“, hat der amerikanische Science-Fiction-Autor William Gibson einmal gesagt. Damit meinte er: Was morgen Alltag ist, lässt sich heute schon auf kleinen Inseln begutachten. GitLab ist so eine Insel. Die Firma zeigt, wie künftig viele Unternehmen arbeiten werden – komplett ohne zentrales Büro. Fredmund Malik, der bekannte Schweizer Management-Vordenker, fasst den Trend so zusammen: „Wir bewegen uns auf eine Wirtschaft zu, in der Raum und Zeit keine Bedeutung mehr haben.“ Er prognostiziert eine Ära der Umbrüche. Der Abschied vom festen Arbeitsort dürfte dabei nur der Anfang sein. In der Personalwirtschaft stehen in den kommenden Jahren viele Veränderungen an: Unternehmen bewerben sich in Zukunft bei den Talenten, Führungskräfte verwandeln sich zu Coaches, und die Besetzung offener Stellen wandelt sich zu einer Vertriebsaufgabe mit Top-Priorität.
Homeoffice: Erst Hype, dann Ernüchterung, jetzt Umsetzung
Der Einstieg ins hybride Arbeiten – abwechselnd zu Hause und im Büro – ist schon in vollem Gange, beschleunigt durch die Corona-Pandemie. Wobei der Trend den klassischen Hype-Zyklus durchlaufen hat. Am Anfang stand die totale Euphorie: Experten jubelten „Das Büro ist tot!“ und verwiesen auf einige (wenige) Studien, die zeigten, dass Menschen in den eigenen vier Wänden produktiver sind. Mit dem Abklingen der Pandemie setzte dann Ernüchterung ein.
Wissenschaftler der University of Chicago fanden heraus, dass Angestellte im Homeoffice zwar mehr arbeiten, jedoch weniger schaffen, weil ihnen ausufernde Videokonferenzen und ständige Chat-Nachrichten die Zeit rauben. Zudem häuften sich die Berichte über Mitarbeitende, die daheim vereinsamen, über nachlassende Kreativität und virtuelles Mobbing. Spätestens als eine Umfrage der amerikanischen Stellen-Suchmaschine Joblist ans Licht brachte, dass 53 Prozent der Heimarbeitenden während der Bürozeit Wäsche machen und 47 Prozent im Internet einkaufen, fühlten sich die Skeptiker bestätigt. Homeoffice – dieses Experiment ist gescheitert.
Jetzt kommt die typische letzte Phase des Hypes: die durchdachte Umsetzung. Hybrides Arbeiten entwickelt sich in nahezu allen Firmen zur neuen Normalität, und zwar in der gemäßigten Form. 100 Prozent „Remote“ wie bei der Softwarefirma GitLab bleibt die Ausnahme, genau wie reine Büroarbeit. Man trifft sich irgendwo auf der Mitte. Gänzlich ohne die Option Homeoffice allerdings wird kein Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt von morgen bestehen können. Das deutet sich jetzt schon an. Viele Talente haben sich während der Pandemie an das pendelfreie Leben gewöhnt und fordern es jetzt ein. So mancher Recruiter hat in den letzten Monaten Sätze gehört wie „Sie bieten keine Homeoffice-Tage an? Dann sorry …“ Das ist symptomatisch. Bei einer weltweiten Umfrage des Beratungsunternehmens Ernst & Young gaben 54 Prozent der Arbeitnehmer an, sie würden über eine Kündigung nachdenken, falls der Arbeitgeber keine Heimarbeit zuließe.
Leicht wird der Abschied vom Gravitationszentrum Büro sicherlich nicht. Die Kärrnerarbeit beginnt gerade erst. Unternehmen müssen Wege finden, um eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu vermeiden. Studien zeigen schließlich, dass Heimarbeiter bei Beförderungen oft schlechte Karten haben, weil Führungskräfte Personen bevorzugen, die sie täglich sehen (Fachwort: Proximity Bias). Außerdem müssen neue Entlohnungsmodelle her, weil der kostenlose Betriebskindergarten zum Beispiel dem Heimarbeitenden nichts bringt. Und schließlich braucht es klare Regeln zur Nutzung digitaler Medien, damit nicht alle von der sogenannten „Zoom-Müdigkeit“ ausgebremst werden (Leistungsabfall durch zu viele Videokonferenzen). Um diese Aufgaben zu stemmen, haben einige Unternehmen sogar ein neues Vorstandsressort geschaffen: den Chief Remote Officer. Doch das ist nur eine kurzfristige Mode. Die Mobilmachung der Arbeit ist so wichtig, dass sie von der gesamten Organisation vorangetrieben werden muss – nicht nur von einer einzigen Person.
„Arbeite, so viel du willst“– ein Motto der Zukunft?
Das Arbeiten überall – im englischen Sprachraum „Work from Anywhere“ (WFA) genannt – ist natürlich nur Stufe eins der Flexibilisierung. Bald wird der nächste Schritt folgen: Arbeite, so viel du willst. Künftig wird es auf vielen Positionen keine Stundenvorgaben mehr geben, stattdessen geht man dazu über, das Resultat der Arbeit zu messen und zu entlohnen. Die Idee zirkuliert zwar schon seit Jahrzehnten, doch der Moment rückt näher, sie auch umzusetzen. Anders lässt sich eine über den halben Erdball versprengte Belegschaft überhaupt nicht managen. Langfristig werden alle Wissensindustrien auf totale Flexibilisierung der Arbeit setzen – weil das der beste Weg ist. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Gartner (Reimagine HR Employee Survey) spricht hier eine klare Sprache: In Unternehmen mit fester 40-Stunden-Woche bringen nur 36 Prozent der Angestellten eine hohe Leistung. Organisationen, die ihren Leuten freistellen, wo und wie viel sie arbeiten, kommen auf 55 Prozent.
Insgesamt wird die Businesswelt von morgen nicht viel mit der des Jahres 2022 gemein haben. Die Beratungsfirma McKinsey hat die kommenden Umbrüche in einer Studie beschrieben: Demnach setzt das Unternehmen von morgen nicht mehr auf Funktionsbereiche und traditionelle Hierarchien, sondern besteht aus einem Netzwerk weitgehend unabhängiger Teams. Pionierfirmen zeigen schon, wie das geht: Der chinesische Haushaltsgerätekonzern Haier zum Beispiel setzt sich aus zahllosen Mikro-Firmen zusammen. Einige sind für einen bestimmten Kühlschrank oder Herd zuständig, andere entwickeln ein neues Produkt, wieder andere unterstützen die restlichen Mikro-Firmen, etwa mit Logistik-Leistungen. Wobei jedes einzelne Unternehmen mit großer Autonomie handelt. Wesentlich mehr Entscheidungen werden von den Mitarbeitenden getroffen, die nah am Kunden sind.
Der Betrieb von morgen gleicht also nicht mehr dem trägen Supertanker, sondern eher einer Armada wendiger Schnellboote. Wendig ist dabei das entscheidende Stichwort: Das Unternehmen der Zukunft ist bestrebt, möglichst schnell und in möglichst viele Richtungen zu experimentieren. Wird eine Chance entdeckt, erschafft man in kürzester Zeit einen abgespeckten Prototypen (Minimum Viable Product, kurz MVP, genannt) und testet ihn am Markt. Im Silicon Valley wird schon lange so gearbeitet, in Zukunft gehört das Kürzel „MVP“ zum Vokabular jedes Mittelständlers.
Lieber agil als autoritär – der Führungsstil von morgen
Für die Armada aus Schnellbooten braucht es selbstverständlich neue Kapitäne. „Die Zukunft gehört dem agilen CEO“, sagt Darrell Rigby, Autor und Berater bei Bain & Company. Hinter dem etwas abgegriffenen Mode-Adjektiv verbirgt sich eine interessante Prognose: Der Chef oder die Chefin hat künftig vor allem die Aufgabe, das Lernen in der Organisation voranzutreiben und Experimente zu ermöglichen.
Führungsarbeit wird sich dadurch radikal verändern: Meetings zum Beispiel, wie es sie heute noch gibt, mit einer langen Agenda und oft ohne konkretes Ergebnis, verschwinden. Stattdessen hält man sogenannte Work Sessions ab, bei denen sich die Teilnehmer ausschließlich einer Idee widmen, für die dann ein Prototyp erarbeitet wird.
Dafür braucht es auch einen neuen Führungsstil. Der alte Typus des Leitwolfs, der stets selbstbewusst auftritt und Anweisungen gibt, hat ausgedient, sagt Vordenker Rigby. Seine Prognose: In der von Unsicherheit geprägten Welt von morgen reüssieren Führungskräfte, die sich selbst hinterfragen, Feedback von allen einholen (unabhängig von der Position) und eher als Coaches auftreten denn als Befehlshaber. Sie sorgen für ein Umfeld, in dem Ideen – und Widerspruch – frei geäußert werden können. Kurzum: Sie sorgen für einen Nährboden, auf dem eine experimentierfreudige Organisation gedeiht.
Ein Faktor allerdings bremst in Zukunft nahezu alle Unternehmen aus: leere Schreibtische. Seit Jahren wird vom „War for Talent“ geschrieben, doch im Vergleich zu der Arbeitskräfteknappheit, die auf die Wirtschaft zukommt, war der bisherige Kampf nur ein unbedeutendes Scharmützel. Erst unlängst mahnte Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit: „Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus!“ 2021 schrumpfte die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte im typischen Berufsalter um fast 150.000.
In diesem Jahr werde es noch „viel dramatischer“, sagte Scheele. 400.000 Zuwanderer pro Jahr seien nötig, um die Schrumpfung aufzuhalten – doch diesen Wert erreicht Deutschland nicht. Unternehmen werden sich zur Decke strecken müssen, um offene Positionen zu besetzen.
Rekrutierung wird zum wichtigsten Vertriebsjob
Aufträge sind da, aber es fehlen Leute, um sie auszuführen – das ist bald überall an der Tagesordnung. In der Welt der knappen Talente reüssieren jene Unternehmen, die am schnellsten umdenken und auf das sogenannte Reverse Recruiting umschalten. Das bedeutet: Der Arbeitgeber bewirbt sich beim Arbeitnehmer. Um möglichst viele Talente zu locken, ziehen clevere Unternehmen die Rekrutierung wie den Vertrieb auf. Sie optimieren jeden Berührungspunkt zum Kunden (Kandidaten), vom Erstkontakt bis zur Einstellung und dem ersten Tag im Betrieb. Mehr als bisher kommen dabei Spezialisten zum Einsatz. Unternehmen mit hohem Personalbedarf leisten sich interne Headhunter, die in den sozialen Netzwerken gezielt Talente suchen und ansprechen. Dieses sogenannte Active Sourcing wird heute schon punktuell praktiziert – in Zukunft wird es Standard sein.
Oberste Priorität hat außerdem, die Erfahrung von Bewerberinnen und Bewerbern zu verbessern (Candidate Experience). Hier ist vielerorts noch Luft nach oben. Viele Interessenten müssen sich nach wie vor mit unübersichtlichen Formularen herumschlagen, erhalten zu wenig Informationen zur Stelle und bekommen nach der Kontaktaufnahme kaum Rückmeldungen. Künftig merzt ein eigenes Team diese Schwächen aus. Profis in Sachen Nutzerfreundlichkeit (Usability) sorgen dafür, dass Bewerben so einfach und bequem wird wie der Einkauf im Online-Shop – und sich mit einem Klick erledigen lässt. Am Schluss treten Recruiter in Aktion, die darauf spezialisiert sind, den Kandidaten oder die Kandidatin zum Abschluss zu bewegen. Hier sind Überzeugungskraft und Sozialkompetenz ausschlaggebend.
Berufs-Pausierer werden mit Returnships umgarnt
Eine wichtige Personalressource von morgen sind Job-Rückkehrer, die ihre Berufstätigkeit unterbrochen haben, beispielsweise um Kinder großzuziehen oder die Eltern zu pflegen. Clevere Arbeitgeber sprechen die Pausierer gezielt an, zum Beispiel über ein sogenanntes Returnship, eine Art Probezeit für Job-Rückkehrer. Das funktioniert so: Die erfahrene Kraft wird testweise für mehrere Wochen oder Monate eingestellt. Währenddessen bezieht sie ein reguläres Gehalt und nimmt an Trainings teil. Am Ende des Returnships entscheidet der Arbeitgeber, ob die Person unbefristet eingestellt wird. Beide Seiten profitieren davon: Die zurückkehrende Person gewinnt neues Wissen, Selbstvertrauen und Kontakte – der Arbeitgeber kann Kandidaten ohne Risiko evaluieren. Der Investmentriese Goldman Sachs zum Beispiel nutzt schon Returnships, um die immer größeren Lücken in der Belegschaft zu füllen.
Am Ende des „War for Talent“ könnte das stehen, was in den USA „Open Hiring“ genannt wird. Der Begriff bedeutet: Jeder wird eingestellt. Die Kosmetikkette Body Shop zum Beispiel praktiziert das im gewerblichen Bereich schon. Um Personal für seine Logistikzentren zu finden, hat sie alle Hürden abgeräumt: Jobsucher brauchen keinen Lebenslauf mehr vorzulegen, müssen keinen Drogentest mehr bestehen (in den USA durchaus üblich), sogar ein Gefängnisaufenthalt stellt keine Einstellungshürde mehr dar. Das Verfahren habe sich bewährt, heißt es aus der Personalleitung von Body Shop. Natürlich ist „Open Hiring“ kein Allheilmittel. Arbeitgeber in komplexen Wissensindustrien werden es sich auch künftig nicht leisten können, wahllos Leute einzustellen, schon gar nicht in Positionen wie Finanzen, Compliance oder IT-Sicherheit.
Doch tendenziell zeigt „Open Hiring“ in die richtige Richtung: Die Arbeitgeber werden in den kommenden Jahren sukzessive alle Bewerbungshürden abräumen (müssen).
Für Personal-Profis sind all diese Entwicklungen gute Nachrichten. Denn in einer Welt, in der „Köpfe sind wichtiger als Kapital“ gilt, sind sie gefragter denn je.
Die Aufgaben des HR-Ressorts werden allerdings nicht einfacher – und die Agenda ist lang: Der Sprung ins hybride Arbeiten muss gelingen, der Rekrutierungsprozess muss digitaler und effektiver werden, es gilt, ganze Belegschaften auf den Silicon-Valley-Stil einzuschwören.
Vordenker Fredmund Malik macht den Entscheidungsträgern Mut. „Jetzt ist eine große Zeit für Experimente“, betont der Doyen der Managementlehre. Die Arbeitswelt stehe vor einer Transformation, die so bedeutend sei wie die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert, so Malik. „Es wird sich noch viel mehr ändern, als wir uns jetzt vorstellen können.“
Erschienen in: ZUKUNFTS_KRÄFTE – Wer gestaltet das morgen?
Autor: Constantin Gillies
Chefredakteur des Informationsdienstes „TrendScanner“ und Korrespondent der Zürcher „Handelszeitung“.
Er arbeitet als Wirtschaftsjournalist und Buchautor in Bonn.
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